Der Vogel und der schwarze Kater

Wort zum Tage
Der Vogel und der schwarze Kater
06.06.2018 - 06:20
07.03.2018
Diederich Lüken
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„Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.

 

Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frisst,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.“

 

Was Wilhelm Busch hier in vergnügliche Reime fasst, ist ein Sinnbild für die menschliche Situation schlechthin, denke ich. Wir sitzen wie der Vogel festgeleimt auf dem Baum des Lebens und können nicht herunter. Und am Ende frisst den Vogel der schwarze Kater, das ist ein Symbol für den Tod. Wir alle wissen, dass jedes Leben begrenzt ist und einmal zu Ende geht. Wir wissen nur nicht, wann die Zeit kommt, in der das geschehen wird. Und das ist gut so. Denn das gibt uns die Freiheit, genau das zu tun, was Wilhelm Busch seinen Vogel tun lässt: die Zeit nutzen und ein wenig „quinquilieren“, ein wenig Frohsinn verbreiten, ein wenig Wohlklang in die Welt bringen. Es klingt beinahe wie das berühmte Wort von Horaz: Carpe diem, pflücke den Tag! Dahinter steckt allerdings eine zutiefst pessimistische Sicht auf das Leben: Außer der Lebenszeit hier und jetzt gibt es nichts; deshalb muss man die Zeit bis zur Neige auskosten. So denkt ein Mensch, der keine Hoffnung über seine Lebenszeit hinaus kennt.

 

Es überrascht, dass auch ein so hoffnungsvolles Buch wie die Bibel Sätze kennt, die ganz ähnlich klingen. Der Prediger Salomo scheint so zu denken. Von ihm stammt das berühmte Zitat: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“ (Prediger 3,1). Doch in einem unterscheidet er sich von Horaz: Dieser setzt nur auf die glücklichen Stunden, die es zu pflücken gilt; der Prediger hingegen weiß, dass schlechthin alles und jedes seine Zeit hat. „Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit“, sagt er, und: „Lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit“ (Prediger Salomo 3, 2 und 4). Es gibt für ihn kein Tabuthema, das man ausklammern müsste, um ein glückliches Leben zu führen. Im Gegenteil: Er tut es dem Vogel Wilhelm Buschs gleich, nutzt die Zeit und quinquiliert noch ein wenig, und das so laut, dass wir es nach so vielen Jahren immer noch hören können. Dabei sieht er den schwarzen Kater unaufhaltsam näherkommen und weiß: auch er hat seine Zeit.

 

Beides ist Lebendigkeit, und beides nimmt der Prediger aus Gottes Hand. Das ist sein Geheimnis des guten Lebens, dass jede Zeit Gottes Zeit ist, aus seiner Hand kommt und in seine Hand zurückkehrt.

07.03.2018
Diederich Lüken