Ein Herbstpsalm (Herbstanfang)

Wort zum Tage
Ein Herbstpsalm (Herbstanfang)
Wort zum Tage
23.09.2020 - 06:20
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Mit dem heutigen Tag beginnt der kalendarische Herbst. Ich mag den Herbst als Jahreszeit. In diesem Jahr fürchte ich ihn. Weil ich ahne: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“. So dichtete Rainer Maria Rilke in seinem Herbstgedicht lange vor Corona. Und heute: Der Sommer bot ja Platz und Ausweichmöglichkeit im Coronablues: Freunde treffen im Biergarten, der Enge der eigenen vier Wände entfliehen in den Park, sommerliche Erholung an der Ostsee, Chorgesang im Freien. Was aber kommt, wenn der Herbst kommt? Die Biergärten schließen, die Temperaturen fallen, die Viren fliegen, das Leben auf der Straße verschwindet, während es in unseren Häusern längst noch nicht wie gewohnt stattfinden darf. Ich dichte mir die Melancholie mit meinem persönlichen Herbstpsalm von der Seele:

Herr, der Sommer war sehr groß.

Zum Glück, denn ohne die Weite Deiner Schöpfung hätte ich die Enge im Lockdown kaum ertragen: die geschlossenen Spielplätze und Kirchen, den Wahnsinn des Homeoffice samt Homeschooling und Haushalt. Ich trage nun in mir die wogenden Felder und Kornblumen auf Usedom. Ich danke Dir so sehr für die frische Meeresluft, die ich atmen durfte ganz ohne Maske. Ich will daran denken, wenn die Luft wieder knapp wird im Alltag und nach Desinfektionsmittel riecht, die Sonne weniger scheint, die mir über manche Sorge hinweggeholfen hat, wenn die Tage nun wieder kürzer werden.

Ich danke Dir für jeden Schluck Radler im Biergarten, jedes Glas Wein, das so besonders schmeckte und kostbar, als die Lokale und Biergärten wieder öffnen durften.

Ich danke für die Nähe trotz der Entfernung, die ich empfangen durfte durch Briefe und Anrufe und kostbare Begegnungen.

Ich danke Dir für die Zeit, die ich mir selbst nehmen konnte für Dinge, die ich lange schon nicht mehr getan habe: fürs genussreiche Kochen, fürs Klavierspielen am Abend, für lange Skatrunden mit den Kindern, weil morgens keine Schule war und das Büro zuhause erst später anfing.

Ich danke für die Gesundheit - sie ist ja nicht selbstverständlich, ist es nie gewesen. Für Nächstenliebe und Rücksicht. Und – ja – auch für den Abstand zu manchem will ich danken. Denn zu viel Nähe deckt manchmal Leere zu, die da ist. Ich danke für die Leere, die war und ausgehalten werden musste und für die Ideen, die daraus entstanden. Für jeden intensiven, genutzten Augenblick dieses Sommers will ich Dir danken.

Herr, der Sommer war sehr groß – auch wenn der Radius diesmal kleiner war.

 

Es gilt das gesprochene Wort.