Visionen sind notwendig

Wort zum Tage
Visionen sind notwendig
29.08.2017 - 06:20
28.08.2017
Diederich Lüken

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Das ist das vielleicht bekannteste Zitat des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt. Später hat er es bedauert: „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ Aber seine Ablehnung von Visionen hatte Gründe. Wenn in der Politik Visionen auftauchten, geschah dies selten zum Wohl der Menschen. Meistens führten die Visionäre Gewaltherrschaften herauf. Die Vision von der Gleichheit aller Menschen den Kommunismus. Die Vision eines autarken Nationalstaates den Nationalsozialismus. Die Vision eines Gottesgnadentums in die Monarchie. Sie alle missachteten den Menschen, der nicht von Visionen lebt, sondern von Recht und was zum Essen.

 

Genau das enthält eine Vision, die vom Apostel Petrus berichtet wird: etwas zum Essen. Ein großes Tuch kommt vom Himmel herab, gefüllt mit lauter Leckerbissen. Aber sie sind alle verboten. Ein Jude wie Petrus isst nun mal keine Schnecken, keinen Aal, kein Schweinefleisch. Unerhört ist die Forderung, die vom Himmel ertönt: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss! Was Gott rein gemacht hat, nenne du nicht unrein!“ Später erkennt Petrus, was diese Vision ihm sagen will. Das Evangelium von Jesus Christus ist nicht begrenzt auf sein Israel und nicht gebunden an die dort geltenden Speisevorschriften. Das Evangelium gilt jedem, der es hört und es annimmt. Diese Vision ist  notwendig, damit die Botschaft von Jesus Christus die Grenzen seiner jüdischen Umwelt überschreiten und in die weite Welt gelangen kann. Damit verbunden ist die Einsicht, dass es niemanden gibt, der von Gott bevorzugt oder benachteiligt wird einfach dadurch, dass er einem bestimmten Volk oder einem bestimmten Kulturkreis angehört. Darum haben auch die Menschen diese Grenzen in Respekt vor der Eigenart der jeweils anderen zu überwinden.

 

Diese Vision ist ganz und gar nicht behandlungsbedürftig. Ich fürchte aber, sie ist heute weiter von ihrer Erfüllung entfernt als noch vor Jahren. Nationale Vorurteile, rassistische Ressentiments, Besitzstandsdenken und die Furcht vor dem gesellschaftlichen Abstieg beherrschen im sogenannten freien Westen die Köpfe der Menschen mehr als je. Ich denke: Nachdem der Glaube an Jesus Christus in einer zunehmend säkularen Gesellschaft (viel) an Boden verloren hat, wachsen sich die menschenverachtenden Haltungen zu einer Ersatzreligion aus. Wo mit viel Herzblut und politischer Weitsicht Grenzen niedergerissen wurden, bauen Kurzsichtigkeit und Ängstlichkeit sie wieder auf.  Was in dieser Situation fehlt, ist tatsächlich eine völkerumgreifende Vision, wie Petrus sie hatte. Nicht einmal Helmut Schmidt hätte etwas gegen eine solche Vision haben können. Im Gegenteil.

28.08.2017
Diederich Lüken