Gewissensbisse

Wort zum Tage
Gewissensbisse
30.08.2017 - 06:20
29.08.2017
Diederich Lüken

Wo Friedrich Nietzsche sich zum Gewissen äußert, kann man sicher sein, dass er eine zynische Verurteilung desselben im Sinn hat. Für ihn ist das Gewissen der innere Anwalt einer überholten religiösen Instanz. Denn nach Nietzsches Meinung ist Gott tot, und alles, was mit ihm zu tun hat, ebenfalls. Und deshalb auch das Gewissen. Es verpflichtet seinen Träger zu einem Schuldbewusstsein, das nach Nietzsches Meinung die Entwicklung des Menschen zu seiner eigentlichen Bestimmung, nämlich ein Übermensch zu werden, hindert. Das schlechte Gewissen verursacht moralische Bauchschmerzen. Als Ausgleich dafür drangsaliert der Mensch seine Mitmenschen. In diesem Sinne sagt Nietzsche: „Gewissensbisse erziehen zum Beißen.“

 

Diese Feststellung bleibt auch dann noch richtig, wenn man wie ich über den Menschen und seine Bestimmung und über Gott ganz anders denkt, als Nietzsche dies tut. Denn jemand, der eine Schuld auf sich geladen hat, tut in der Regel alles, um die Aufmerksamkeit von sich abzuwenden. Wer ihm nahekommt, könnte ja herausfinden, dass er irgendetwas getan oder unterlassen hat, was ihm nun Gewissensbisse verursacht. Deshalb wird die wohlmeinende Kollegin oder der Freund sozusagen weggebissen. So erziehen Gewissensbisse tatsächlich zum Beißen.

 

Nietzsche würde in seinem solchen Fall empfehlen, das schlechte Gewissen einfach zu ignorieren und als Überbleibsel einer überwundenen Erziehung abzutun. Das allerdings ist der schlechtestmögliche Umgang mit einem schlechten Gewissen. Besser wäre es, die Schuld dort einzugestehen, wo sie entstanden ist und um Verzeihung zu bitten. Wenn die Verzeihung gewährt wird, erübrigt sich die Bissigkeit. Denn vergebene Schuld drückt das Gewissen nicht mehr. Man kann sich einander wieder annähern. Er Der andere hat das Versagen verziehen und ist gut Freund geblieben oder durch die Vergebung erst geworden.

 

Doch Manche Gewissensbisse können zwischen Mensch und Mitmensch nicht bereinigt werden. Es gibt so schwere Schuld, dass die Bitte um Vergebung gar nicht angebracht werden kann. Wer will zum Beispiel wen um Vergebung bitten, wenn jemand schuldhaft in den Tod getrieben wurde? Es gibt, und das muss gegen Nietzsche unbedingt festgehalten werden, nur einen, der solche Gewissensbisse aufnehmen kann. Als ein paar Söldner Jesus Christus ans Kreuz nageln, betet er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Der Gott, der dieses Gebet hört, kann womöglich auch dem Vergebung gewähren, der bei Menschen keine mehr finden kann. Dann sind die Gewissensbisse überwunden und mit ihnen der Drang, andere zu beißen.

29.08.2017
Diederich Lüken