Schnäppchen

Wort zum Tage
Schnäppchen
75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
27.01.2020 - 06:20
03.01.2020
Barbara Manterfeld-Wormit
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Mit einem Schnäppchen fing es an: Eine Hotelsuche im Internet zwischen den Jahren. Ein paar Klicks – gefunden und gebucht. Ein paar Tage später waren wir an der Ostsee. Drei freie Tage voller Ruhe, Wind und klirrender Kälte am Strand – was kann schöner sein?! Schöner war die Unterkunft – tatsächlich ein Schnäppchen: die Residenz Bleichröder in Heringsdorf – eins der drei Kaiserbäder auf der Insel Usedom. Im Sommer unbezahlbar – in der Nebensaison erschwinglich. Direkt an der Promenade, Blick auf die Ostsee, ein imposanter Frühstückssaal mit Möbeln im Empirestil und Feinem Porzellan auf den Tischen, Marmor unter den Füßen – Ölgemälde an den Wänden. Baujahr 1890. Der Glanz vergangener Zeiten.

Gerson Bleichröder war einer der einflussreichsten Bankiers der damaligen Zeit. Enger Vertrauter Otto von Bismarcks, dessen Privatvermögen er verwaltete und der ihn später in den Adelsstand erhob. Er kümmerte sich im Auftrag des Reichskanzlers um die Finanzierung des deutsch-französischen Krieges. Er galt als einer der reichsten Männer Europas, war Vater von vier Söhnen und einer Tochter, ein wichtiger Mäzen der damaligen Zeit und: gläubiger Jude. Im Park seiner Villa an der Ostsee ließ er damals eine Skulptur errichten. Seit 130 Jahren steht sie da: die römische Göttin Diana mit gespanntem Pfeil und Bogen in der Hand – vollkommen konzentriert. Man ahnt schon beim Betrachten: Sie weiß genau, wo ihr Ziel ist – und sie wird es erreichen. Gerson Bleichröder hat sein größtes Ziel nicht erreicht: Er wollte damals dazugehören. Wirklich dazugehören. Er besaß zwar Macht und Einfluss. Man nutzte den Bankier und sein Vermögen – aber tatsächlichen Einlass in die Gesellschaft gewährte man ihm nicht – weil er Jude war. Und das monarchische Kaiserreich geprägt von einem immer weiter zunehmendem Antisemitismus. Die Söhne Bleichröders konvertierten nach dem Tod des Vaters zum Christentum. Es half nichts. 1938 wurde die Familie Bleichröder enteignet. Die herrliche Villa samt Park und der Göttin Diana an der Ostseepromenade ging in den Besitz Hermann Görings über. Ein Schnäppchen. Ab sofort diente es der Erholung ranghoher Nazigrößen. Zwei Enkeltöchter des Bankiers wurden später nach Riga deportiert und ermordet. Zu DDR-Zeiten ließ Wilhelm Pieck dann das Grabmal der Familie Bleichröder in Berlin-Friedrichsfelde kurzerhand abtragen, weil es ein sozialistisches Mahnmal überragte.

Heute vor 75 Jahren wurde Auschwitz befreit. Ein Anlass, um die Geschichte von Gerson Bleichröder zu erzählen. Weil sie zu unserer gehört.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

03.01.2020
Barbara Manterfeld-Wormit